Simone
Weil, eine ungewöhnliche Frau
Die französische Marke mit dem Bildnis
einer jungen Frau und einer Inschrift fiel
mir auf: "L'attention est la seule faculté
de l'âme qui donne accès à dieu."
(Aufmerksamkeit ist die einzige Fähigkeit
der Seele zur Begegnung mit Gott).
Die französische Post hat mit ihrer
Ausgabe vom 10. November 1979 Simone Weil
anlässlich ihres 70. Geburtstages mit
einer Zuschlag-Marke 1.30 + 0.30 Fr. (Mi
2177) geehrt. Sie verstarb aber schon mit
34 Jahren am 24. August 1943 im Exil in
Ashford in England.
Sie
war am 3. Februar 1909 in Paris als
Tochter eines jüdischen Arztes, eines
Agnostikers ohne traditionelle Bindung an
das Judentum, geboren worden. Mit vier
Jahren konnte sie lesen, bald lange
Gedichte zitieren. Sie war sehr
empfindlich und häufig krank Sie
beschäftigte sich auf dem Lyzeum mit alter
und neuer Philosophie. Beim
Studienabschluss 1927 bestand sie als
Beste in Philosophiegeschichte. 1931 wurde
sie Philosophie-Lehrerin am
Mädchengymnasium in Le Puy. Ihr soziales
Denken und Handeln, ihre spartanische
Lebensweise wurde bewundert.
Gesellschaftliches Unrecht ließ sie zu
einem radikal denkenden Menschen werden.
Die Hälfte ihres Gehalts als Lehrerin in
Le Puy teilte sie mit Arbeitslosen und
nahm an Demonstrationen teil. Sie wurde
von der Polizei öfter verhört, bekam
Drohbriefe und wurde mehrfach versetzt.
Sie arbeitete 1934 als ungelernte
Fabrikarbeiterin, um die Lebensbedingungen
der Arbeiter kennen zu lernen. Die
Akkordarbeit strengte sie sehr an. Den
ohrenbetäubenden Lärm konnte sie kaum
ertragen. Nach einer Verletzung 1935 wurde
sie arbeitslos. Mit ihren Eltern reiste
sie nach Spanien und Portugal. Sie war
beeindruckt von der Religiosität der
portugiesischen Bevölkerung. Sie kämpfte
dann im spanischen Bürgerkrieg an der
Seite der Francogegner mit. Verletzt und
entsetzt über die Grausamkeiten des
Bürgerkrieges kehrte sie 1936 nach
Frankreich zurück.
1937 reiste sie zum ersten Mal nach
Italien, besuchte eine Messe im Petersdom,
war begeistert über die Landschaft, die
Kunst, die Religiosität in Italien.
Während eines Gottesdienstes in der
Benediktinerabtei in St. Pierre de
Solesmes südlich von Valenciennes hatte
sie 1938 ihre erste mystische Erfahrung.
Das Empfinden, dass Christus in der Messe
gegenwärtig sei, beschrieb sie nicht als
eine Erscheinung, sondern als gewissere
Gegenwart als die eines persönlichen
Menschen, "als die Gegenwart einer Liebe,
wie in dem Lächeln eines geliebten
Antlitzes".
Intensiver Briefwechsel mit dem
Dominikanerpater J. M. Perrin brachte sie
nicht dazu, in die katholische Kirche
einzutreten. Sie hielt daran fest, die
Liebe Christi könnte in uns sein ohne
Zugehörigkeit zur Kirche, die sie wegen
ihrer Vergangenheit besonders im
Mittelalter und wegen mangelnder
Bereitschaft zu gegenwärtig fälligen
Reformen ablehnte.
Wegen der deutschen Besatzung floh sie
erst nach Marseille, gelangte dann über
die USA nach England. Sie nahm Kontakt auf
mit dem Befreiungskomitee Charles de
Gaulles, der sie wegen ihres jüdischen
Aussehens nicht für die Résistance in
Frankreich geeignet hielt. Nur brieflichen
Kontakt sollte sie halten und sich
Gedanken machen über die künftige
französische Verfassung. De Gaulle
forderte für sich das alleinige
Vertretungsrecht Frankreichs, woraufhin
Simone Weil das Abgleiten in nationalen
Faschismus befürchtete und die
Zusammenarbeit aufgab. Sie lebte weiter
krank und ohne Gehalt, bis sie an
Herzversagen infolge von Tuberkulose und
Hunger am 24. August 1943 starb. Es ist
nicht eindeutig belegt, dass sie sich vor
dem Tode noch taufen ließ. Sie wurde unter
nur sehr geringer Beteiligung am 30.
August 1943 auf dem Friedhof von Ashford
beigesetzt. Auf der Gedenktafel vor ihrem
Grab steht: "Ihre Schriften etablierten
sie als eine der bedeutendsten modernen
Philosophen".
Die
meisten der bedeutenden
Veröffentlichungen, Tagebuchnotizen,
Essays, Gedichte, politische und
philosophische, später auch
theologisch-mystische Schriften, wurden
erst posthum herausgegeben. Heinrich Böll:
"Die Autorin liegt mir auf der Seele wie
eine Prophetin .... es ist der Literat in
mir, der Scheu vor ihr hat; der
potentielle Christ in mir
bewundert
sie; der in mir verborgene Sozialist, der
in ihr eine zweite Rosa Luxemburg ahnt;
... ich bin ihr nicht gewachsen,
intellektuell, moralisch, religiös nicht.
Was sie geschrieben hat, ist weit mehr als
"Literatur", was sie gelebt hat, weit mehr
als "Existenz". Ich habe Angst vor ihrer
Strenge, ihrer sphärischen Intelligenz und
Sensibilität, vor den Konsequenzen ...".
Simone Weil sieht den Zweck jeder
Gemeinschaft und des Staats darin, Krieg
und Unterdrückung des einzelnen Menschen
zu verhindern. Fabrikarbeit ist
Sklavenarbeit. Die Arbeiterschaft ist
entwurzelt. Teilhabe an der Gesellschaft
und Tradition, Einsicht in den
Zusammenhang ohne Zeit- und Existenzdruck
lässt den Menschen seine Stellung und
Aufgaben bejahen, die Technik habe sich
dem Menschen anzupassen.
Die wahre Wirklichkeit kann nur erkannt
werden, wenn sich der Mensch frei macht
von der öffentlichen Meinung, seiner
Begierde und den Illusionen. Das führt zur
Haltung der "Aufmerksamkeit" (attente),
des geduldigen hoffenden Erwartens und zur
"Schwerkraft der Gnade" (Titel!) und
Barmherzigkeit gegen die Schwerkraft der
Selbstbehauptung, des Machtstrebens, der
Rache und Vergeltung, des Materiellen.
"Nicht weil Gott uns liebt, sollen wir ihn
lieben, sondern weil Gott uns liebt,
sollen wir uns lieben".
Robert
Koll
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